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Samstag, 12. Januar 2019

[Leseprobe] "Rainfield High" - Jeidra Rainey

Heute gibt es für euch das erste Kapitel aus meinem neuen Roman "Rainfield High" und ich hoffe, ich kann euch ein wenig in den Bann von Mr. Leach und seiner allerletzten Physikstunde ziehen! :D

-1-
Die letzte Physikstunde


Collin McAdams saß in der langweiligsten Physikstunde seines Lebens. Wie so oft drifteten seine Gedanken ab und landeten wieder einmal bei Brooke Chavel. Die perfekte Brooke, die im Cheerleader-Team war und Collin jedes Mal, wenn er sie auf dem Schulflur sah, beinahe um den Verstand brachte.
Collin dachte an das Lächeln, das sie ihm am Morgen geschenkt hatte. Ihm ganz allein. Jedenfalls redete er sich das ein und ignorierte die Tatsache, dass der Basketballstar der Schule, Jason Vailer, zufällig gerade direkt neben Collin gestanden hatte.
Nein. Nein. Nein. Die eisblauen Augen von Brooke hatten eindeutig Collin fixiert. Sie hatten sich förmlich in ihn gebohrt, in seine Haut und in sein Herz. Es klang kitschig und sein bester Freund Liam würde ihn wahrscheinlich auslachen, aber genau so musste die erste Liebe sein.
Wenn sie mich doch nur jeden Tag so anschauen würde, dachte Collin, als plötzlich etwas Staubiges sein Gesicht traf. Oh nein, nicht schon wieder …
Collin hob den Kopf und schaute zu Mr. Leach, der direkt vor der Tafel stand und seinen Wurfarm noch angehoben hatte. Der alte Lehrer, der wie der Tod höchstpersönlich aussah, ließ sich von niemanden unterkriegen. Nicht von seinen Schülern und nicht vom Sensenmann.
Collin strich sich die Kreide aus dem Gesicht, den der widerliche Tafelschwamm dort hinterlassen hatte.
„Collin McAdams“, fauchte Mr. Leach wie eine Katze. Der Physiklehrer trat durch die Reihen und bäumte sich vor Collin auf. Er liebte es, seine Schüler zu maßregeln. „Du sollst gefälligst in meinem Unterricht aufpassen!“
Mr. Leach tolerierte nichts. Er war der strengste Lehrer an der Rainfield High, vielleicht sogar der strengste Lehrer der Welt.
In seinem Unterricht waren Handys verboten, niemand durfte etwas essen oder trinken und alle Schüler mussten stocksteif auf ihren Plätzen sitzen und nach vorne schauen. Wurde auch nur für eine winzige Sekunde der Blick gesenkt, bekam der Betroffene einen Schwamm oder ein Stückchen Kreide ins Gesicht.
Einmal hatte die schüchterne Judy Warren einen Hustenanfall gehabt. Dabei hatte sie sich an die Tischkante geklammert und sich zu allem Überfluss auch noch verschluckt. Das war zu viel für Mr. Leach gewesen, der ein solches Verhalten als mutwillige Störung seines Unterrichts ansah. Er hatte dem armen Mädchen, das in der ersten Reihe saß, ein Stück Kreide ins Gesicht geworfen. Mit voller Wucht. Natürlich hatte er, beabsichtigt oder nicht, ihr Auge getroffen, das sich daraufhin entzündet und Judy einen Teil ihrer Sehkraft geraubt hatte. Seitdem musste sie eine Brille tragen.
Collin biss sich auf die Innenseite seiner Wange. Jedem anderen Lehrer hätte er eine halbwegs schlagfertige Antwort verpasst oder wenigstens genervt die Augen verdreht, aber bei Mr. Leach traute er sich dies nicht. Es war lächerlich, aber er hatte Angst vor diesem alten Mann, der immer etwas gebückt ging und sein schütteres, graues Haar, schulterlang trug.
„Collin McAdams!“ Mr. Leach schlug auf einmal auf die Tischplatte. Nicht nur Collin zuckte zusammen, sondern auch die anderen Schüler der neunten Klasse. Keiner gab einen Ton von sich, ja, niemand traute sich auch nur zu atmen.
„Du hast gerade geschlagene zweiunddreißig Sekunden in irgendwelchen Tagträumen geschwelgt!“, stellte Mr. Leach mit gnadenloser Präzision fest. „Gefällt dir mein Unterricht etwa nicht? Oder bist du bereits mit sämtlichen Themenbereichen der Physik vertraut? Wenn ja, solltest du dein Wissen mit deinen Mitschülern teilen!“
Collins Herz begann laut zu schlagen. So laut, dass es der alte Lehrer, der sich nun auch noch zu ihm herunterbeugte, unweigerlich hören musste.
„E-es tut mir leid“, brachte Collin heiser hervor. Sein Mund war staubtrocken und seine Beine zitterten, so, wie sie es immer taten, wenn er nervös wurde.
„Das muss dir doch nicht leid tun!“, meinte Mr. Leach. „Für das eigene Wissen muss man sich nicht entschuldigen!“
Collin konnte den fauligen Atem des Physiklehrers riechen. Nur mit Mühe konnte er einen Würgereiz unterdrücken. Er durfte Mr. Leach nicht noch mehr verärgern.
Der Physiklehrer kam noch näher. Sein faltiges Gesicht wirkte wie eine unheimliche Maske. Collin sah die violetten Äderchen auf der Stirn und die tiefen Tränensäcke.
Dieser Mann hätte schon seit mindestens zehn Jahren im wohlverdienten Ruhestand sein können. Allerdings zog er es vor, seine restliche Lebenszeit mit jenen Schülern zu verbringen, die er eh verachtete. Diese Schule war sein Zuhause, der einzige Ort, an dem er existieren konnte.
Mr. Leachs dürre Hand wanderte nach oben, um Collins Gesicht zu packen. Reflexartig schloss Collin seine Augen. Ein Fehler, den er sofort bereute.
„Willst du etwa schon wieder in meinem Unterricht schlafen?“, fragte Mr. Leach aufgebracht. Seine heiße Spuke traf Collin an der Wange. „Ich hab von Anfang an gewusst, dass nichts in dir steckt. Du bist charakter- und womöglich auch seelenlos. Das zeigt uns ja schon deine Haarfarbe …“
Jetzt kam wieder diese Leier. Collins Eltern stammten aus Irland und von ihnen hatte er auch das landestypische rote Haar geerbt.
Collin riss die Augen wieder auf. Er wollte sie am liebsten nie wieder schließen.
Mr. Leach hatte sich den Tafelschwamm gegriffen, der an Collins mit Sommersprossen übersätem Gesicht abgeprallt war.
„Los!“, befahl der alte Lehrer. „An die Tafel mit dir!“
„I-ich …“ Collin klammerte sich verzweifelt an die Tischplatte. „Bitte, Mr. Leach … E-es tut mir leid …“
„An die Tafel!“, knurrte der Physiklehrer ihn an.
Collin schaute nach rechts und links. Seine Mitschüler saßen starr an ihren Plätzen und starrten nach vorne. Er war allein. Vollkommen allein. Ein einsamer Kämpfer, der einen fast hundertjährigen Mann besiegen musste. Ein Mann, der vermutlich sogar den letzten Weltkrieg miterlebt hatte.
Helft mir, flehte Collin stumm. Bitte! Helft mir doch!
Doch in den Gesichtern der anderen Neuntklässler war neben Angst pure Erleichterung zu erkennen. Jeder war froh, selbst nicht betroffen zu sein.
Collin spähte zur Tür. Die Tür, die Mr. Leach zum Stundenanfang stets verschloss, um Zuspätkommer zu betrafen. Sie wurden eiskalt von der Stunde ausgeschlossen und mussten zum Einzelunterricht erscheinen. Seit dem Schulbeginn gab es keinen einzigen Schüler, der auch nur eine Millisekunde zu spät gekommen war.
Collin war so verzweifelt, dass er sogar die Fenster betrachtete und abwägte, ob und mit welchen Verletzungen er einen Sprung aus dem zweiten Stock überleben würde.
„Collin …“ Mr. Leachs Geduldsfaden würde jeden Moment reißen.
Collin seufzte, erhob sich und verfrachtete seinen schlaksigen Körper nach vorne. Vor der Tafel blieb er kurz stehen und überflog die krakelige Schrift des Lehrers, um wenigstens einen Überblick darüber zu haben, um was es in dieser Stunde ging.
Das „Moseley-Gesetz“ stand ganz oben, darunter eine lange Formel, die Collin nicht verstand. Physik hatte ihm noch nie gelegen. Am liebsten hätte er den Kurs gewechselt, aber natürlich waren alle anderen naturwissenschaftlichen Fächer längst überfüllt.
„Du kannst uns doch sicher sagen, welchen überaus wichtigen wissenschaftlichen Beitrag der Physiker Henry Moseley geleistet hat!“ Mr. Leachs Stimme triefte nur so vor Verachtung. „Nicht wahr, Collin?“
Collin drehte sich langsam um. Er hielt den Kopf gesenkt und atmete viel zu schnell. Die Panik lähmte ihn. Er ertrug diese Demütigung nicht länger. Am liebsten hätte er den Tränen, die sich in ihm anstauten, freien Lauf gelassen, aber er konnte Mr. Leach diesen Sieg nicht gönnen.
„I-ich“, setzte er an, doch Mr. Leach unterbrach ihn.
„Nein, nicht du …“ Der Lehrer setzte sich in der ersten Reihe an einen freien Tisch direkt neben dem von Judy. Das schüchterne, braunhaarige Mädchen versuchte sich nichts anmerken zu lassen, musste aber drei Mal blinzeln, als erwartete sie, von der Seite angegriffen zu werden. Sie tat Collin furchtbar leid.
„Es geht hier nicht um dich, sondern um Henry Moseley!“ Mr. Leach knetete mit seinen knochigen Fingern den Tafelschwamm, jederzeit bereit, ihn wieder jemandem, vorzugsweise Collin, an den Kopf zu werfen. „Oder hast du in deinem Leben auch schon irgendetwas erreicht? Nein? Dann erzähle uns doch, was andere, bedeutendere Menschen vor dir erschaffen haben! Was hat Moseley herausgefunden?“
Collin versuchte, sich zu beruhigen. Da war jetzt nicht nur die altbekannte Angst, die seine Glieder lähmte, sondern auch eine gewisse Wut. Er verabscheute den alten Lehrer, der sich hier für Gott hielt. Ein Gott, den die Welt schon lange nicht mehr brauchte.
„E-es geht irgendwie um die Ordnungszahlen?“, stotterte Collin. Das hatte er vorhin kurz aufgeschnappt.
Mr. Leach funkelte ihn mit seinen dunklen Augen an. „Willst du uns nicht wenigstens erklären, wie sich diese überaus wichtige Formel zusammensetzt?“
Collin drehte sich wieder zur Tafel, doch das war ein weiterer Fehler. Er spürte, wie Mr. Leach ungeduldig wurde. Der Vulkan, der in ihm brodelte, würde jeden Moment ausbrechen und Collin mit seiner Lava gnadenlos verbrennen.
Verzweifelt versuchte Collin die Variablen der Formel zu entschlüsseln. Wofür stand das „Z“ noch mal?
Er durchforstete sein Gehirn nach den Themen der letzten Stunden. Wellenlängen? Die Rydberg-Konstante?
Alles nur Worte. Nichts davon konnte er in einen logischen Zusammenhang bringen.
Langsam drehte er sich um. Mr. Leach war aufgestanden. Mit den Fingern, die aussahen, als würden sie jeden Moment brechen, stützte er sich an dem Tisch ab.
Jetzt bringt er mich um, dachte Collin. Er wird seinen gesamten Frust an mir abladen und mich in Stücke reißen.
„Vielleicht fällt es dir ja leichter, dein Wissen anhand eines kleinen Experiments zu präsentieren!“ Mr. Leach deutete auf ein Gerät, das vorne auf dem Versuchstisch stand. „Wie wäre es, wenn du uns mal das Gesetz von Moseley verdeutlichst?“
„I-ich kann das nicht!“, gestand Collin leise. „E-es tut mir leid!“
„Du kannst das also nicht …“, wiederholte Mr. Leach und kam langsam nach vorne. „Also bist du ein dummer Junge? Warum bist du dann überhaupt hier? Wieso melkst du nicht in Irland irgendwelche Kühe?“
Collin schwitzte. Sein sonst so blasses Gesicht hatte sich mit Sicherheit rot verfärbt.
Ängstlich schaute er sich im Klassenzimmer um. Da war Liam, Collins bester Freund, der einfach nur auf die Tafel starrte, als hätte er selbst dieses dämliche Gesetz längst verstanden. Dabei war Liam Dawson genauso wenig an Physik interessiert wie Collin. Warum nur hatte ihnen niemand vor Beginn des Schuljahres erzählt, was für ein Psychopath diesen Kurs gab?
Keiner der anderen Schüler schaute Collin direkt an. Es war, als würde er überhaupt nicht existieren.
Der Physiklehrer ging zu dem aufgebauten Gerät. „Du weißt aber schon, was das hier ist, nicht wahr?“
Collin fing sich wieder etwas. „Ein Röntgengerät!?“
Es sollte nicht wie eine Frage klingen, doch das tat es. Sein gesamtes Selbstvertrauen hatte ihn verlassen. Dabei hatte er sich geschworen, dass es auf der High School endlich besser werden würde.
„Soll mich das jetzt beeindrucken?“, fragte Mr. Leach und schleuderte den Tafelschwamm durch die Klasse. „Die Jugend von heute verkommt immer mehr … Du Collin, bist das perfekte Beispiel dafür. Schau dich doch nur mal an, wie du da stehst … Wie soll aus dir irgendwann einmal ein Mann werden, der die Welt bereichert? Der einen wichtigen Beitrag leistet?“
Collin wusste genau, was jetzt kam. Diesen Vortrag hielt Mr. Leach gerne. Früher war alles besser. Bla. Bla. Bla.
Zum Glück hatte der Schwamm niemanden getroffen. Er lag ganz hinten im Raum auf den Boden, froh darüber, endlich nicht mehr von Mr. Leach misshandelt werden zu können.
Lauf, Schwamm, lauf, dachte Collin. Verschwinde von hier. So schnell es nur geht!
„Wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken?“ Der Physiklehrer war plötzlich neben Collin und packte ihn am Oberarm.
„Beim Tafelschwamm“, platzte es aus Collin heraus. Sofort biss er sich auf die Lippe und schmeckte Blut.
„Beim Tafelschwamm …“ Mr. Leach spitze Fingernägel bohrten sich in Collins Fleisch. „Wieso mangelt es euch jungen Leuten heutzutage an ehrlichem Interesse? Wieso ist es euch so egal, wie die Welt aufgebaut ist? Was große Persönlichkeiten vor euch geschaffen und herausgefunden haben? Warum nur nutzt ihr dieses Wissen nicht und lernt daraus?“
Mr. Leach beantwortete sich die Frage sofort selbst: „Ach, ich hätte es ja fast vergessen. Ihr sitzt lieber stundenlang am Computer … Nicht, um euch das grenzenlose Wissen, das euch dort zur Verfügung gestellt wird, anzueignen, sondern um eure kostbare Zeit mit irgendwelchen dämlichen Spielen totzuschlagen … Bravo … Ihr bekommt alle ein Leben geschenkt und tretet es mit Füßen … Ihr vergeudet eure Zeit und das Schlimmste: Ihr werdet diesen Planeten zugrunde richten! IHR ALLE! Euer grenzenloser Egoismus, eure Gleichgültigkeit und euer Desinteresse werden dazu führen, dass die ganze Welt verkommt …“
Obwohl er die Worte eindeutig an die ganze Klasse, nein an die ganze Welt richtete, bekam Collin die gesamte Wut zu spüren. Mr. Leach zerquetsche ihm förmlich den Arm.
„Ein paar Röntgenstrahlen würden euch allen ganz gut tun!“, knurrte der Lehrer. „Vielleicht beendet es dieses Leid dann in ein paar Jahren oder sorgt wenigstens dafür, dass eure Zellen zu nichts mehr zu gebrauchen sind!“
Collin wurde von Mr. Leach zum Versuchstisch gestoßen. Das uralte Röntgengerät gehörte nicht zum Schuleigentum, sondern war von Mr. Leach höchstpersönlich mitgebracht worden. Mit großer Wahrscheinlichkeit entsprach es nicht den aktuellen Sicherheitsbestimmungen, aber niemand traute sich, dies anzusprechen.
Collin erkannte, was Mr. Leach vorhatte und löste sich von ihm. Es war einfacher als gedacht. Collin war überhaupt nicht so wehrlos, wie ihm der alte Mann weismachen wollte.
Mr. Leach schaute Collin verblüfft an. „Du willst also immer noch nichts lernen, was? Das Wissen, das ich dir hier anbiete, interessiert dich also nicht?“
„Nein!“, feuerte Collin ihm entgegen. Dieses kleine Wort, das nur aus vier Buchstaben bestand, konnte so mächtig sein.
„Was?“ Mr. Leach kniff die Augen zusammen. Die dunklen Pupillen verschwanden hinter seinen geschwollenen Lidern. „Wirst du nun auch noch frech? Das ist mal wieder typisch für deine Generation … Keinen Respekt vor Erwachsenen …“
„Genauso wie es für Ihre Generation typisch ist, vorschnelle Schlüsse zu ziehen!“, erwiderte Collin. „Und andere Menschen abzustempeln, anstatt ihnen eine Chance zu geben!“
Mr. Leach stieß sich vom Versuchstisch ab und hechtete nach vorne, doch Collin wich gekonnt aus. Er war einen guten Kopf größer als der alte Lehrer und trotz seiner Unsportlichkeit viel flinker.
„Ist das alles, was Sie zu bieten haben, Mr. Leach?“, fragte Collin und stieß ein heiseres Lachen aus. Er hörte, dass ein paar seiner Mitschüler entsetzt nach Luft schnappten. „Sie sind ein alter Mann, der bald sterben wird. Was haben Sie denn der Welt hinterlassen? Ihren Unmut? Ihren Frust? Oder das Wissen, dass Sie sich auch nur durch irgendwelche Lehrbücher angeeignet haben?“
Mr. Leach öffnete den Mund. Speichel funkelte an seiner Unterlippe.
Collin verzog das Gesicht. Er ekelte sich vor diesem alten Mann. Schon seit dem allerersten Schultag. „Meinen Sie nicht, dass Sie in einem Altersheim besser aufgehoben wären? Da wischt Ihnen sicher eine nette Krankenschwester die Spucke aus dem Gesicht! Und vielleicht gibt es da auch ein paar heiße Omis, die Sie mit diesen überaus interessanten physikalischen Gesetzen beeindrucken können!“
Collin schaute zu Liam, der sich aus seiner Starre gelöst hatte und grinste. Auch ein paar andere Schüler mussten über diese Schlagfertigkeit schmunzeln. Collin fühlte sich mächtig und vollkommen überlegen. Er hatte es diesem alten Griesgram gegeben. Damit würde er in die Geschichte der Schule eingehen. Aus ihm wurde also doch noch etwas. Ein Star, dem alle auf dem Schulflur auf die Schulter klopften. Vielleicht würde sogar Brooke endlich mit ihm ausgehen.
„Du … d-du pub…“, setzte Mr. Leach an und wollte es wieder einmal auf die Pubertät schieben, als wäre sie ein Fluch, den sich jeder Schüler selbst auferlegt hatte.
Collin lachte los, wurde jedoch von einem Kreischen unterbrochen. Das war Samantha, ein pummeliges, blondes Mädchen, das in der zweiten Reihe saß und nun aufgesprungen war.
Collin schaute erst zu ihr und dann zu Mr. Leach, der sich eine Hand auf die Brust presste und sein Gesicht, das sich knallrot verfärbt hatte, verzog. Seine Arme und Beine zitterten, als gäbe es ein Erdbeben, das nur er spüren konnte.
„Mr. Leach?“, fragte Collin vorsichtig. „Geht es Ihnen gut?“
Der alte Lehrer sank zu Boden und knallte dabei mit dem Kopf gegen den Versuchstisch. Das dumpfe Geräusch ließ Collin zurückweichen.
Mr. Leach zuckte noch einmal. Seine sonst so dunklen Augen, die beinahe an die Schwärze von Onyx erinnerten, waren verschwunden. Da war nur noch das Weiß des Augapfels.
„Er stirbt!“, rief jemand. „Warum tut denn niemand etwas?“
Collin trat einen unsicheren Schritt auf den Physiklehrer, der jetzt regungslos auf den Boden lag, zu.
Herzmassage. Mund-zu-Mund-Beatmung. All das schoss ihm durch den Kopf, aber er tat nichts davon. Er wollte den Lehrer nicht zurückholen. Nein, er sollte dort bleiben, wo er jetzt war.
„Ist er …“, kam es von Samantha. Keiner gab ihr eine Antwort.
Minuten verstrichen. Collins Atmung beruhigte sich. Seine Angst war verschwunden, jetzt war da nur noch Erleichterung. Mr. Leach war endlich fort. Er würde ihn niemals wieder terrorisieren können.
Liam stand plötzlich neben Collin, während Samantha wie eine Irre an der Tür rüttelte. Sie war natürlich noch immer abgeschlossen.
„Wir brauchen den Schlüssel“, stellte Collin fest und deutete auf Mr. Leachs leblosen Körper. Sie alle wussten, dass er seinen Schlüsselbund in der Gesäßtasche seiner Stoffhose aufbewahrte. Natürlich wollte niemand dem Leichnam anfassen.
Collin gab sich einen Ruck. „Er kann uns jetzt nichts mehr tun!“
Er kniete sich neben den alten, seelenlosen Körper und griff in die Hosentasche. Als er den Schlüsselbund in den Händen hielt, kam er sich wie ein Held vor. Er hatte gewonnen. Ja, diesen Kampf hatte er für sich entschieden. Ein kindlicher Gedanke, der ihn davon abhielt, sich die Frage zu stellen, ob er vielleicht die Schuld an Mr. Leachs Tod trug.

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